Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Foto: Clarissa Seidel

Reichstagsbrand: Zum 90. Jahrestag

In der Nacht des 27. Februar 1933 (vier Wochen nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler) wurde der Reichstag in Brand gesetzt. Der 24-jährige Niederländer Marinus van der Lubbe wurde auf der Stelle verhaftet. Ihm wurde ab dem 21.09.1933 vor dem Leipziger Reichsgericht der Prozess gemacht. Dieser endete am 23.12.1933 mit einem Todesurteil für Marinus van der Lubbe. Er wurde am 10.01.1934 in Leipzig durch das Fallbeil hingerichtet und in einem nicht gekennzeichneten Grab auf dem Leipziger Südfriedhof beigesetzt.

Historiker streiten sich jedoch weiterhin darüber, ob Marinus der Brandstifter des Reichstags war oder nicht. Seit dem Ereignis selbst sind verschiedene Theorien aufgekommen, die sowohl für als auch gegen eine Alleintäterschaft Marinus’ sprechen. In den Tagen nach dem Brand wurden politische Gegner verhaftet und in die ersten Konzentrationslager gebracht, einige wurden ermordet. Dies war der Beginn des Holocausts. Und ob Marinus nun tatsächlich der Brandstifter war oder nicht, eines ist sicher: Er war eines der ersten offiziellen Opfer des Dritten Reiches.

Das „Kunstkollektiv Marinus“, bestehend aus den in Leipzig ansässigen Künstlern Jos Diegel, Eliana Jacobs und Nils Müller, widmet sich künstlerisch dem Menschen Marinus van der Lubbe. Es folgt der erste Teil eines Serieninterviews, das Nils Müller mit dem Historiker Alexander Bahar führte, der sich eingehend mit dem Reichstagsbrand beschäftigt hat.

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By Unknown photographer – Nationaal Archief NL, Public Domain, Link

Sie haben 1992 die 1972 erschienene Dokumentation zum Reichstagsbrand (Herausgeber Walther Hofer, Edouard Calic, Karl Stephan, Friedrich Zipfel) bearbeitet und neu herausgegeben. Was hat Sie an der Thematik damals interessiert und was interessiert Sie heute noch daran?

Während meines Studiums stieß ich zufällig in einem Antiquariat in Freiburg i. Br. auf die von Walther Hofer et al. herausgegebene zweibändige Dokumentation „Der Reichstagsbrand‟. Insbesondere die darin dokumentierten Fehler, Widersprüche und bewussten Manipulationen im Zusammenhang mit der Implementierung der sogenannten Einzeltäterthese nach 1945 machten mich fassungslos. Nach der Lektüre stand für mich nicht nur fest, dass ich einen Beitrag zur Aufklärung dieses Verbrechens leisten wollte. Ich wollte auch helfen aufzudecken, wie Geschichtsklitterung funktioniert, welchen Interessen sie dient und wie man sie erkennt. Interessiert hat mich am Reichstagsbrand selbst, wie er von den Nazis als Vorwand für den Terror und die Etablierung ihrer Macht benutzt wurde. Der Reichstagsbrand ist ein Musterbeispiel einer sogenannten False-Flag-Operation. Die Nazis selbst haben später mit dem fingierten Überfall auf den Sender Gleiwitz eine False-Flag-Operation durchgeführt, die ihnen als Vorwand für den Überfall auf Polen diente, mit dem der Zweite Weltkrieg ausgelöst wurde.

In Ihrem Buch „Der Reichstagsbrand – Geschichte einer Provokation“ nimmt Marinus van der Lubbe eine erstaunlich kleine Rolle ein. Auch legen Sie sehr anschaulich dar, dass es verschiedene Zeugen für die Täterschaft der Nazis gab. Wie erklären Sie sich, dass Marinus van der Lubbe als einziger hingerichtet wurde, obwohl die Nazis kommunistische Größen wie Dimitroff und Torgler in Gewahrsam hatten?

Marinus van der Lubbe hat bei der eigentlichen Brandlegung im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes tatsächlich nur eine unbedeutende bzw. gar keine Rolle gespielt. Er hatte nur Kohlenanzünder bei sich. Die kleineren Brände, die er mit deren Hilfe im Reichstagsrestaurant bzw. in den Umgängen des Plenarsaals legte, konnten alle problemlos von der Feuerwehr gelöscht werden, sofern sie nicht von selbst wieder ausgingen. Als van der Lubbe den Plenarsaal betrat, in dem er sich nur wenige Minuten aufhielt, hatte er nach eigener Aussage bereits alle Kohlenanzünder verbraucht. Trotzdem entstand dort der eigentliche Großbrand, der schließlich die Kuppel zum Einsturz brachte.

Van der Lubbe kann den Brand im Reichstagsgebäude schon aus technischen Gründen nicht alleine gelegt haben. Dazu fehlte ihm neben den Mitteln auch die Zeit. Das musste übrigens auch das Reichsgericht in seinem Urteil anerkennen. Trotzdem wurde er verurteilt. Das Reichsgericht unterstellte, er habe kommunistische Mittäter bzw. Hintermänner gehabt, konnte das aber nicht beweisen. Die kommunistischen Mitangeklagten van der Lubbes, KPD-Fraktionschef Torgler sowie die Bulgaren Dimitroff, Taneff und Popoff, mussten mangels Beweisen freigesprochen werden. Alle von der Reichsanwaltschaft gegen sie ins Feld geführten „Beweise“ hatten sich vor Gericht als Lügen und Manipulationen entpuppt. Für aufmerksame Beobachter des Prozesses war der Freispruch der kommunistischen Angeklagten daher sicher keine Überraschung.

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By Unknown photographer – GaHetNa (Nationaal Archief, The Netherlands), Public Domain, Link

Der Reichstagsbrandprozess wurde am Anfang international im Rundfunk übertragen. Wie wurde das plötzliche Ende der Übertragungen seitens der NS-Regierung in der internationalen Presse aufgenommen? Galt ein solches Vorgehen damals als einem Rechtsstaat gemäß?

Wie sicher die NS-Machthaber ihrer Sache zunächst waren, zeigt die scheinbar volle Öffentlichkeit, in der sie den Prozess durchführen ließen. 82 Korrespondenten inter-nationaler Zeitungen sowie 42 Vertreter NS-naher oder gleichgeschalteter deutscher Blätter waren zum Prozess zugelassen. Außergewöhnlich war die Errichtung eines Sonderpostamts mit Telefon- und Telegrafenverbindungen in die ganze Welt. Gleich-zeitig sollte die Übertragung der Verhandlung über das von der neuen Regierung massiv genutzte Medium Rundfunk der ganzen Welt die scheinbare Rechtsstaatlich-keit und Legalität der deutschen Justiz einprägsam vor Ohren führen. Parallel dazu wurde ‒ auf Wunsch des Reichspropagandaministeriums ‒ die gesamte Hauptver-handlung auf Wachswalzen aufgezeichnet.

Allerdings kamen auf Seiten der Hitler-Regierung schon bald nach Prozessbeginn Befürchtungen auf, dass das (fingierte und manipulierte) Beweismaterial wohl nicht für eine Verurteilung der kommunistischen Mitangeklagten van der Lubbes wegen Brandstiftung ausreichen würde. Das kann man in den von uns erstmals vollständig ausgewerteten Originalakten des Reichstagsbrandprozesses von 1933 (von Politi-scher Polizei, Reichsgericht und Oberreichsanwalt) nachlesen.

Die weitere Entwicklung des Verfahrens, insbesondere die entlarvende Bloßstellung von Gericht, Oberreichsanwaltschaft und Politischer Polizei durch das unerwartet schlagfertige und unerschrockene Auftreten des Mitangeklagten Georgii Dimitroff veranlasste die NS-Führung sehr bald, die Rundfunkübertragungen stark zu reduzie-ren und sie schließlich ganz einzustellen. Sie wurden allerdings nicht offiziell beendet, sondern spontan eingestellt. Reaktionen des Auslands speziell zur Einstellung der Rundfunkübertragung der Verhandlung sind mir nicht bekannt. Allerdings gab es zahlreiche Reaktionen aus dem Ausland, sowohl der bürgerlichen Presse als auch insbesondere von Presseorganen der sozialistischen und kommunistischen Arbeiter-bewegung, die den gesamten Prozess als Justizfarce kritisierten und verurteilten.

Auch die anfangs umfangreiche Berichterstattung in der deutschen Presse wurde mehr und mehr reduziert. Bei der Auswahl der Zuschauer war man dagegen von An-fang an vorsichtiger. Nur ein gut vorsortiertes Publikum kam in den Genuss der 120 für jeden Verhandlungstag ausgegebenen Zuhörerkarten, vornehmlich Repräsentan-ten zentraler Behörden, der NS-Bewegung, Diplomaten sowie Angehörige der „bes-seren Kreise“.

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By Marcel Antonisse (ANEFO) – GaHetNa (Nationaal Archief, The Netherlands), 932-8289, CC0, Link

Wer war Marinus van der Lubbe? Wie schätzen Sie seine Person ein?

Van der Lubbe war ein naiver politischer Wirrkopf, leicht entflamm- und beeinfluss-bar, zudem von einem ausgeprägten Geltungsbedürfnis. Diese Charakter- und Per-sönlichkeitsstruktur prädestinierte ihn geradezu zu einem Instrument und Werkzeug Dritter. Er war kurze Zeit Mitglied der Kommunistischen Partei Hollands gewesen, hatte sich dann aber einer rätekommunistischen Splittergruppe zugewandt, die den Kommunismus Moskauer Spielart ablehnte, ja bekämpfte. Diese Organisation stand in Kontakt mit ihrer deutschen Schwesterorganisation, der Allgemeinen Arbeiterunion (AAU).

Uns liegen eine Reihe von Aussagen und Hinweisen darauf vor, dass van der Lubbe in seinem unklaren Bestreben, ein politisches Fanal zum Aufstand der Arbeiter ge-gen das kapitalistische System zu setzen, Provokateuren aufgesessen ist. Das be-deutet nicht, dass er bewusst mit Nationalsozialisten kooperiert hätte. Vielmehr war die Szene, in der er einige Tage vor dem Brand in Berlin-Neukölln verkehrte, nach-weislich mit Polizeispitzeln durchsetzt. Auch liegt uns eine eidesstaatliche Erklärung eines früheren Funktionärs der AAU vor, mit dem sich van der Lubbe in Berlin ge-troffen hatte. Van der Lubbe wollte ihn für eine „Aktion‟ gewinnen und behauptete, er habe dafür bereits Mitstreiter gefunden. Die wiederum will er in Lokalitäten ken-nengelernt haben, die nach Aussage des Zeugen nachweislich von Nazis frequen-tiert wurden. Van der Lubbe ließ die Warnung des Zeugen, er sei Provokateuren aufgesessen, offensichtlich unbeeindruckt. Im Drama Reichstagsbrand spielte er ei-ne Rolle, die er wohl bis zum Ende nicht verstand. So wurde er zu einem der ersten Opfer der NS-Unrechtsjustiz.

In Ihrem Buch vertreten und untermauern Sie die sogenannte Vieltäterthese. In der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland und den Niederlanden hält sich bis heute die sogenannte Alleintäterthese. Welche der beiden Thesen war die zuerst vorherrschende im Dritten Reich und danach?

Für die Nazis war der Reichstagsbrand ein bewusst inszenierter Vorwand, um sich ihrer schärfsten politischen Gegner, der Kommunisten, sowie aller Sozialisten und Linksintellektuellen zu entledigen. Wie Sie wissen, wurden nach dem Reichstagsbrand die ersten Konzentrationslager errichtet. Die Kommunisten wurden pauschal als Brandstifter beschuldigt, der Reichstagsbrand sollte laut Nazi-Propaganda das Fanal zum „bewaffneten Aufstand“ gewesen sein. Dieser, so die NS-Propaganda, habe nur durch das beherzte Durchgreifen der Hitler-Regierung verhindert werden können. Diese Propaganda, sowie brutale Repression und Gewalt, erzielten den gewünschten Erfolg: Bei den von Hitler vorgezogenen Reichstagswahlen erhielt die NSDAP zusammen mit ihren deutschnationalen Verbündeten eine knappe absolute Mehrheit. Während im Dritten Reich die offizielle Sichtweise von der Kollektivschuld des Kommunismus galt, setzte sich außerhalb Deutschlands sehr früh die Meinung durch, dass die Nazis selbst den Brand gelegt hätten, profitierten sie doch als einzige von diesem politischen Verbrechen.

Erst nach 1945 kam in der Bundesrepublik Deutschland die sogenannte Alleintäter- oder Einzeltäterthese auf. Ihr Urheber ist der spätere erste Chef der Gestapo Rudolf Diels, der in der Brandnacht die Verhaftungsaktion geleitet hatte. Von ihm übernahm sie Fritz Tobias, seines Zeichens Mitarbeiter des Verfassungsschutzes von Niedersachsen, der sie in Rudolf Augsteins Spiegel öffentlichkeitswirksam verkünden durfte. Die „wissenschaftliche Weihe“ erhielt sie ungeachtet ihrer vielen Fehler und Ungereimtheiten später von Hans Mommsen, Spross einer berühmten deutschen Historikerfamilie und seinerzeit Mitarbeiter des einflussreichen Instituts für Zeitgeschichte in München. Wie das im Einzelnen vonstattenging, ist äußerst aufschlussreich, aber eine andere Geschichte.

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By Unknown author – “Express Ilustrowany” Nr 359/1933, Public Domain, Link


Zu Alexander Bahar:

Alexander Bahar wurde 1960 in Long Beach, Kalifornien geboren und siedelte dann in die Bundesrepublik Deutschland über. Er studierte Geschichte, Politikwissenschaft, Philosophie und Ethnologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, wo er 1992 mit der Studie „Sozialrevolutionärer Nationalismus zwischen Konservativer Revolution und Sozialismus – am Beispiel Harro Schulze-Boysens und seiner Zeitschrift Der Gegner“ promoviert wurde.

Ebenfalls 1992 trat Bahar als Bearbeiter und Neuherausgeber der erstmals 1972 erschienenen Dokumentation Walther Hofers und anderer zum Reichstagsbrand hervor, welche die These vom Alleintäter Marinus van der Lubbe beim Reichstagsbrand 1933 zu widerlegen suchte. Seither stehen vor allem Bahars Forschungen zur Täterfrage beim Reichstagsbrand im Zentrum seiner Arbeit.


Hinweis:

Das Interview wurde im Rahmen des Kunstprojekts „Marinus – das Fanal“ geführt. Dieses Projekt wird organisiert durch Kunst Raum Mato e.V. und unterstützt durch „Leipzig. Ort der Vielfalt“, ein Programm gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie Leben!“, sowie vom Freistaat Sachsen und der Stadt Leipzig. Die Maßnahme wird mitfinanziert mit Steuermitteln auf Grundlage des von den Abgeordneten des Sächsischen Landtags beschlossenen Haushalts.

Nils Müller, geboren 1990 in Leipzig, lebt ebenda als freischaffender Autor. Er hat den Begriff der Kunst als Gewissen der Menschheit in sich aufgenommen und gibt diesen Auftrag an die Leser und Zuhörer weiter. Seine Texte wurden bisher in den Literaturzeitschriften FreiDenker, Syrinx Magazine, neolith- Magazin und dem Magazin des Unternehmens "bring together" sowie im Webzine "The Leipzig Glocal" veröffentlicht.

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